Hochkomplexe Multi-Stakeholder- Prozesse effizient umsetzen
Die Transformationsprozesse hin zur Klimaneutralität und auch die Prozesse zur Erstellung kommunaler Wärmeplane sind hoch komplex. Daher plädiert Thomas Koller, Gründer und CEO der enersis europe GmbH, im Gespräch mit dem ew-Magazin dafür, zeitgemäße digitale Lösungen wie gaia einzusetzen. Auch gibt er Hinweise, wie diese Multi-Stakeholder-Prozesse effizient umgesetzt werden können.
Herr Koller, Sie werben auf Ihrer Webseite mit dem Slogan »Wir haben die Lösung zum Erreichen der Klimaziele«. Welche Lösung bieten Sie an?
Koller: Seit über zehn Jahren beschäftigen wir uns mit digitalen Lösungen, um den Herausforderungen der Klimawende begegnen zu können. Dabei ist offensichtlich: Der Transformationsprozess mit all seinen Facetten hin zur Klimaneutralität ist hochkomplex und zeichnet sich dadurch aus, das sehr unterschiedliche Stakeholder in unterschiedlichen Rollen einbezogen und verschiedene Interessen berücksichtigt werden müssen. Zudem gibt es hierfür nicht den einen Lösungsweg: Jede Kommune ist anders, jedes lokale Energiesystem muss anderen Rahmenbedingungen genügen. Dies zeigt: Für die Prozesse der Entscheidungsfindung im Rahmen der kommunalen Klimawende sind digitale Tools auf Basis belastbarer Daten notwendig. Und hier setzen wir an: Mit unseren digitalen Lösungen machen wir diesen Transformationsprozess managebar. Analoge Klimaschutzkonzepte auf Papier können dagegen nicht die Lösung sein. Daher plädieren wir auch bei der anstehenden kommunalen Wärmeplanung, diese nicht auf Papier zu erstellen, sondern auf zeitgemäße digitale Lösungen zu setzen.
Für belastbare Klimaschutzkonzepte sind eine Vielzahl verschiedener Daten erforderlich. Auch dies spricht für digitale Lösungen, oder?
Koller: Richtig. Grundlage für belastbare Konzepte sind wahnsinnig viele Daten, zum Beispiel über die Gebäude, die Assets der Energieinfrastruktur, die Strukturen inIndustrie und Gewerbe sowie über soziodemografische Entwicklungen. Daraus lässt sich die Realität dann in sehr gut strukturierten Datenmodellen abbilden – ein Ansatz, der heute als digitaler Zwilling beschrieben wird. Dadurch schaffen wir auch Transparenz über den Status quo sowie über die Wirksamkeit und Kosten der einzelnen Maßnahmen und unterstützen in der Kommunikation und der Zusammenarbeit. Wir bieten sozusagen ein Projektmanagementtool für den ganzheitlichen Transformationsprozess hin zur Klimaneutralität.
Welche Zielgruppen sprechen Sie an?
Koller: Das ist sehr unterschiedlich, da es sich um ein Multi-Stakeholder-Thema handelt.Wir sprechen hauptsächlich mit Energieversorgern, aber auch mit den Gebietskörperschaften, mit Energieberatern und mit Ingenieurbüros. Dabei ist klar: Es kann keiner alleine machen. Der Weg hin zur Klimaneutralität ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Dieses Verständnis muss bei allen Beteiligten da sein. Allerdings sehen wir auch, dass der kommunale Energieversorger prädestiniert dafür ist, in den Lead zu gehen und eine maßgebliche Rolle einnehmen sollte. Warum? Die politische Verantwortung liegt zwar bei der Gebietskörperschaft, aber der Energieversorger hat die erforderliche Kompetenz, er verwaltet einen Großteil der notwendigen Daten und er ist maßgeblich bei der Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen beteiligt. Dies sind meist unsere erfolgreichsten Projekte: Der Energieversorger wählt ein System aus, betreibt dieses und stellt es dann – teilweise auch kostenlos – der oder den Kommunen zur Verfügung. Beispiele hierfür sind die Kommunalplattform der Netze BW oder in Schleswig-Holstein das Klima-Navi.
Energieversorger sind damit auch die bevorzugten Kunden, mit denen Sie solche Transformationsprozesse umsetzen?
Koller: Ja,das ist richtig. Sie betreiben die wesentlichen Infrastrukturen, haben das notwendige Know-how zum Beispiel zur Einschätzung möglicher Netzver-dichtungen oder -erweiterungen und ganz wichtig: Sie verwalten die meisten Daten, die für einen solchen Prozess entscheidend sind – zum Beispiel Ver-brauchsdaten, Wärmebedarfe, Daten zur Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien oder Netzdaten. Diese müssen dann nur noch strukturiert und mit weiteren Datenergänzt werden. Ein weiterer Vorteil für alle Beteiligte: Energieversorgersind häufig sehr zögerlich, wenn sie Daten zu ihren Assets preisgeben müssen, auch wenn sie mittlerweile teilweise dazu gesetzlich verpflichtet sind. Betreiben sie das System dagegen selbst, behalten sie die Datenhoheit und können zudem mit den zu ergänzenden Daten – zum Beispiel Schornsteinfegerdaten – Mehrwerte schaffen. Die Kommunen können sich dann auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren, nämlich die Ableitung einerpassenden Strategie sowie die Planung und Umsetzung der notwendigen Maßnahmen.
Sie haben es bereits angedeutet: Die Daten sind die Grundlage für einen ganzheitlichen und zielgerichteten Transformationsprozess. Wie ist hier der aktuelle Stand? Können die notwendigen Daten einfach bereitgestellt werden?
Koller: Kurz zusammengefasst: Ja, es ist meist alles da! Ja, es ist viel besser als noch vor zehn Jahren! Aber – es geht nichts einfach nur per Knopfdruck! Jedes unserer Datenintegrationsprojekte ist ein QS-Projekt, das immer ähnlich abläuft. Wir nehmen im ersten Schritt die Daten aus den Abrechnungsprogrammen und verschneiden diese mit unseren Gebäudemodellen und mit den technischen Datenaus den GIS-Systemen. Allein dass dies einigermaßen passt, ist nach wie vor mit sehr viel Arbeit verbunden. Denn: Es müssen ja nicht nur Daten integriert werden. Viel wichtiger ist es, diese Daten in gewissen Logiken zu verknüpfen, so dass auf dieser Basis dann zum Beispiel auch Netzberechnungen, Entscheidungen im Bereich der Netzplanung oder beim Steuern nach §14a EnWG möglich sind.
Wie groß ist der Aufwand zur Einführung der digitalen Lösung gaia?
Koller: All unsere Projekte sind langjährige Projekte, bei denen wir schrittweise vorgehen. Daher haben wir auch die Einführung unserer Lösung beim Kunden unterteilt in ein erstes und in ein zweites Onboarding. Wir stellen unseren Kunden sehr schnell – normalerweise innerhalb von vier Wochen – ein Erstsystem zur Verfügung, wofür wir keine Daten von Dritten benötigen. Wir bringen also beim ersten Onboarding alles mit, zum Beispiel Gebäudedaten und -modelle sowie statistische Daten. Damit lassen sich bereits erste Einschätzungen und Maßnahmen ableiten und transparent darstellen. Dies ist vor allem bei der Kommunikation zum Beispiel mit dem Bürgermeister, mit dem Gemeinderat und mit der Öffentlichkeit wichtig. Beim zweiten Onboarding geht es dann um die Integration weiterer Daten und um konzeptionelle Arbeiten. Wir veredeln sozusagen das Datenmodell immer weiter und passen den digitalen Zwilling immer mehr an die spezifischen Rahmenbedingungen vor Ort an. Das ist ein Prozess, der sich im ersten Schritt meist über ein halbes Jahr erstreckt. Damit sind die Grundlagen geschaffen und es können dann kontinuierlich immer mehr Messdaten integriert werden – zum Beispiel aus Ortsnetzstationen, aus IoT-Sensorikoder Störungsdaten aus den Netzleitsystemen. Bildlich gesprochen füllt sich das Gefäß mit immer feinerem Sand und wird immer voller.
Jetzt kommt auf Kommunen und Energieversorger mit der kommunalen Wärmeplanung ein neues Projekt zu. Wie ist hier der optimale Projektplan?
Koller: Wir haben zurzeit so viele Anfragen wie noch nie. Allerdings sind die Vorstellungen, was sich hinter einer kommunalen Wärmeplanung verbirgt, sehr unterschiedlich. Grundsätzlich ist der gesamte Prozess der kommunalen Wärmeplanung sehr klar definiert: Bestandsanalyse sowie Potenzialanalyse und daraus die Ableitung von Zielszenarien und Strategien. Aber dieHeran-gehensweisen sind sehr unterschiedlich, denn auch hier handelt es sich umein Multi-Stakeholder-Projekt und auch hier ist es von großem Vorteil, wenn die Kommunen von Anfang an die Stadtwerke mit einbeziehen: Stadt vergibt an Stadtwerk, das sich mit weiteren Dienstleistern, wie Energieberatern und Ingenieurbüros, abstimmt und das auch die digitale Lösung organisiert –und das alles in enger Abstimmung mit der Stadt. Das ist aus unserer Sicht das aktuelle Erfolgsmodell. Allen Beteiligten muss dabei bewusst sein, dass eine kommunale Wärmeplanung keine einmalige Maßnahme ist, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der sich über die nächsten Jahre und Jahrzehnte hinzieht, und dass eine kommunale Wärmeplanung auch nicht statisch auf Papiererfolgen kann. Egal für welchen Anbieter man sich entscheidet: Die digitale Plattform ist nicht »nice to have«, sondern absolut notwendig. Nur so lassen sich die Daten kontinuierlich aktualisieren, Maßnahmen simulieren und planen sowie Fortschritte überwachen und kommunizieren.
Bis zum Jahr 2026 beziehungsweise 2028 müssen die Kommunen belastbare kommunale Wärmepläne zur Verfügung stellen? Lässt sich dieser Zeitplan aus Ihrer Sicht einhalten?
Koller: Aus meiner Sicht gibt es zu dem Zeitplan gar keine Alternative. Kommunale Wärmepläne sind ja Teil eines übergeordneten Transformationsprozesses –nämlich hin zur Klimaneutralität – und bilden die Grundlage für eine erfolgreiche Wärmewende. Wir müssen also alles dafür tun, damit die Ergebnisse aus den kommunalen Wärmeplänen möglichst schnell zur Verfügung stehen. Dies gelingt jedoch nur dann, wenn wir den Gesamtprozess optimieren und nicht bei jeder der 11000 Kommunen in Deutschland immer wieder bei Null beginnen. Mit digitalen Tool wie gaia lassen sich zum Beispiel gewisse Daten für die Bestands- und Potenzialanalyse – zum Beispiel die Sanierungszustände der Gebäude – deutschlandweit erheben. Hier können wir mit den richtigen Maßnahmen sehr schnell und großflächig wichtige Informationen ableiten und dann zur Erstellung regional spezifischer Szenarien und Strategien zur Verfügung stellen. Das würde den Prozess deutlich vereinfachen und beschleunigen. Aber leider ist dies bei der Politik auf Bundes- und Landesebene noch nichtangekommen.
Wie konkret unterstützen Sie mit der gaia-Lösung die Kommunen bei der kommunalen Wärmeplanung?
Koller: Wir hören häufig von unseren Kunden: Eine digitale Lösung wie gaia macht das Thema erst greifbar, es unterstützt bei der Kommunikation und beseitigt somit Hemmnisse an vielen Stellen. Das sind nicht zu unterschätzende Aspekte. Darüber hinaus machen wir den gesamten Prozess effizienter. Zum Beispiel lassen sich die CO2-Emissionen sowohl für einzelne Gebäude als auch für eine gesamte Kommune per Knopfdruck aus dem System heraus berechnen, ohne das aufwendige manuelle Arbeiten erforderlich sind. Wir gehen dabei davon aus, dass durch den Einsatz unseres Tools der Aufwand des Planungsprozesses und der Ingenieurdienstleistung um 40 bis 50 % reduziert wird.
Vordem Hintergrund des aktuellen Fachkräftemangels kann dies durchaus einwichtiger Aspekt sein.
Koller: Richtig. Auch wenn wir mit unserer Lösung viele Aufgaben und Prozesse automatisieren und vereinfachen können: der Transformationsprozess hin zur Klimaneutralität oder auch nur ein kommunaler Wärmeplan ist und bleibt komplex und herausfordernd. Die dafür erforderlichen Szenarien und Strategien gibt es nicht auf Knopfdruck.Wir arbeiten daher immer mit Ingenieurbüros zusammen, und diese sind bereits jetzt ein sehr begrenzender Faktor. Daher rate ich allen Kommunen und Stadtwerken, sich bereits jetzt mit dem Thema zu beschäftigen und sich auch mit den erforderlichen Dienstleistern abzustimmen.
Das Interview führte Martin Heinrichs, Chefredakteur des ew-Magazins und ist im Stadtwerke Special 2023 erschienen.